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Grosse Schritte auf steinigem Grund

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Ein Mann verliert bei einem Verkehrsunglück seinen Sohn. 40 Tage später steigt er ins Auto, fährt 80 Kilometer und trifft den Unfallfahrer in einem Waldstück, um ihm die Hand zu reichen.

Die Sicht ist klar, als ein Mann mit seinem Traktor auf eine Kreuzung zufährt. Er beschleunigt, rollt über die «Kein Vortritt»-Markierung. Als er zuvor nach links schaut, nach rechts, als er nach anderen Fahrzeugen Ausschau hält, sieht er nichts.

Diese Geschichte handelt von zwei Männern. Der eine ist Andreas F., ein junger Landwirt, der Disco-Swing tanzt und lieber zuhört als redet. Ein Mann in den Dreissigern, der mitten im Leben steht. Der andere ist Fredy H., der Briefmarken sammelt und regelmässig betet. Er ist der Vater von Dominik H., einem Mann in den Dreissigern, der ebenfalls mitten im Leben steht. Bis von rechts einer kommt, der ihn nicht sieht.

Andreas F. und Fredy H., die eigentlich anders heissen, haben sich bereit erklärt, über das zu reden, was ihnen zugestossen ist. Für diesen Artikel haben sie sich noch einmal getroffen. Ihre Erzählungen aus mehreren Einzelgesprächen sowie die Notizen einer Beraterin von RoadCross Schweiz ergänzen den Text.

Eine Schuld entsteht, wenn ein Mensch sich verhält, wie er nicht soll. Wenn er gegen Werte verstösst, gegen Normen. Oder gegen das Gesetz. Schuld ist die Verantwortung, die sich aus einer Verfehlung ergibt.

Andreas F. macht sich an einem Freitagmorgen schuldig.

Das Motorrad knallt mit voller Wucht in seinen Traktor. Der Lenker wird über die Motorhaube geschleudert, bleibt blutend am Boden liegen. Andreas F. bremst ab, springt vom Fahrersitz, wählt den Notruf, beginnt zu reanimieren. Eine Polizistin, die zufällig am Unfall vorbeifährt, kommt zu Hilfe. Später trifft die Sanität ein, die Polizei, die örtliche Feuerwehr. Andreas F. steht etwas abseits, wird betreut. Noch bevor er in das Polizeiauto steigt, für die Befragung, den Atemluft-Test, die Blut- und Urinproben, sagt man ihm, dass der Motorradfahrer den Unfall nicht überlebt habe.

Andreas F. trägt eine Brille und ein schwarzes Shirt mit Aufdruck. Er schildert die Vorgänge von der Unfallstelle in kurzen Sätzen, die sich hin und wieder verästeln. Seine Stimme hat einen warmen Klang. Längere Blickkontakte ergeben sich kaum, immer wieder fixiert Andreas F. neue Punkte im Raum. Sein Blick wandert.

Was er nach dem Aufprall oder bei den Wiederbelebungsversuchen gedacht oder gefühlt hat, weiss Andreas F. nicht. «Man blendet die Emotionen aus», sagt er, «man funktioniert einfach.» Über Gefühle redet er kaum in der Ich-Perspektive. Immer wieder reflektiert er sie aus der Distanz, fast so, als spreche er nicht nur für sich, sondern für eine grössere Allgemeinheit, die dieselbe Erfahrung durchmachen musste.

Fredy H., weisser Stoppelbart, fein eingefasste Brille, hört die Schilderungen vom Unfall, von der Reanimation von Dominik H. mit. Er sitzt zwei Meter neben Andreas F., stumm, die Hände auf der Tischplatte ineinandergelegt. Hin und wieder gerät Andreas F. beim Erzählen ins Stocken. Dann erhält seine Stimme einen fragenden Unterton, wird leiser und der Blick schweift zu Fredy H. Dieser bemüht sich, die Lücken mit seinen Erinnerungen zu füllen. Bevor er redet, wartet er das Satzende ab. Kein einziges Mal fallen sich Fredy H. und Andreas F. ins Wort.

Die Fassung wahren in den schlimmsten Minuten

Vom Tod seines Sohnes erfährt Fredy H. kurz vor dem Mittag im Büro. Es ist seine Ehefrau, die ihm die Nachricht überbringt. Sie bittet ihn, sich bei seiner Schwiegertochter zu melden. Fredy H. ruft an. Eine, vielleicht zwei Minuten dauert das Telefonat, das er weniger als Gespräch, denn als Abfolge von Worten in Erinnerung hat. Es fallen Zahlen – die Nummer des Polizisten, und es fällt die Bitte, Fredy H. möge den Bruder von Dominik H. informieren. Also ruft er seinen zweiten Sohn an und erreicht nicht ihn, aber dessen Arbeitgeberin. Dort bittet er um Rückruf und sagt, dass sein Sohn nach dem Telefonat an diesem Nachmittag wohl ersetzt werden müsse.

Danach sitzt Fredy H. im Büro und wartet, bis sein Telefon klingelt.

Fredy H. sagt «i», wenn er «ich» meint und lässt das «R» im Rachen verschwinden. Er wählt seine Worte sorgfältig. Mit ruhiger Stimme erzählt er, wie damals seine Hände kalt wurden, wie er innerlich zu zittern begann. Und wie er, der jahrelang selbst Mitglied eines Care-Teams gewesen war, zu sich gesagt habe, dass er jetzt nicht schlappmachen dürfe. Mehrmals stützt er seine Ellenbogen nach einer Frage auf der Tischplatte auf, presst die Handflächen zusammen, schliesst die Augen, einen Moment nur, bevor er antwortet.

In den Minuten nach der Todesnachricht, sagt Fredy H., habe sich sein Sichtfeld zu einem Tunnelblick verengt. «Ich bündelte in dieser Ausnahmesituation meine Energie, ähnlich wie ein Tier, das all seine Kräfte mobilisiert, bevor es flüchtet.» Während er im Gespräch schildert, wie es ihm gelungen ist, in einer der extremsten Stress-Situationen seines Lebens die Fassung zu wahren, wischt er sich die Tränen von den Wangen.

Dominik H., der als Bus-Chauffeur eine Arbeit fand, die ihn wieder zufrieden machte. Der Gesellschaftsspiele mochte und mit seiner Frau ein zurückgezogenes Leben führte. Der den grossen Auftritt im Gespräch lieber anderen überliess, wenig über sich redete. Der sich hingegen als Erster mit Glückwünschen zu Wort meldete, wenn jemand Geburtstag hatte. Dominik H. – ein Leben geht zu Ende, an einem Strassenrand, so plötzlich.

Die Gedanken kreisen um diese eine Frage

Ist man je in der Lage, den Tod seines Kindes zu verkraften?

 

Kann man Nachsicht entwickeln für die Verfehlung eines anderen oder Empathie für die Schuld, die auf ihm lastet, die ihn möglicherweise quält? Ist es möglich, auf den Schuldvorwurf zu verzichten?

Kann man einem Fremden vergeben, der den eigenen Sohn getötet hat?

Andreas F. und Fredy H. sprechen sich mit ihren Vornamen an. Sie sind es, die gewünscht haben, dass das Gespräch zu dritt stattfindet. Weil sie voreinander, wie sie sagen, nichts zu verbergen haben. Als Fredy H. das Sitzungszimmer betritt, ist Andreas F. schon da. Die Stimmung ist unerwartet entspannt, die Begrüssung herzlich. Sie wechseln ein paar Worte, einmal lachen sie sogar, nicht laut, für einen Augenblick. Als das Gespräch beginnt, sackt die Stimmung ab.

Das Bewusstsein für die Schuld, sagt Andreas F., sei sofort da gewesen. Als er es knallen gehört hat. Er war es, der über die «Kein Vortritt»-Markierung gerollt ist. Er, der zuvor auf der Strasse nie negativ aufgefallen ist, muss den Fahrausweis noch auf dem Polizeiposten abgeben.

Am späten Nachmittag holt seine Frau ihn ab, die beiden spazieren durch den Wald. Sie reden kaum. In Andreas F.s Kopf rotieren damals die Gedanken, wie er sagt. Wer war der Verstorbene? Wie geht es den Angehörigen? «Man fühlt sich schuldig.»

Warum-Fragen sind es, die ihn in den Stunden, Tagen, Wochen nach dem Unfall nicht loslassen. Warum hatte dieser Unfall passieren müssen? Warum hatte es diesen Mann getroffen, der nicht viel älter war als er? Und warum ihn, Andreas F.? Warum hatte er nicht einen Augenblick später abfahren können, eine halbe Minute vielleicht?

Auch in den beiden Einzelgesprächen, die per Video-Call stattfinden, lacht Andreas F. ein-, zweimal. Als sich seine Mundwinkel anheben, glaube ich plötzlich, in seinen Gesichtszügen den Skispringer Simon Ammann zu erkennen. Es ist ein anderes Lachen als im Gespräch zu dritt. Es wirkt gelöster.

Einer, der keine Ausflüchte sucht

Fredy H. sagt über Andreas F., er sei ein aufrichtiger Mensch.

Durch Vergebung verzichtet eine Person auf den Schuldvorwurf, ohne die erlittene Verletzung zu relativieren oder zu entschuldigen. Vergeben wird nicht die Tat. Vergeben wird dem Täter. Der Prozess einer Vergebung läuft vorwiegend innerseelisch ab. Er kann auch stattfinden, ohne dass die schuldige Person Reue oder Einsicht zeigt.

Am späteren Nachmittag nach dem Unfall ruft Fredy H. den rapportierenden Polizisten an. Er fragt, ob Alkohol oder Drogen beim Unfall eine Rolle gespielt hätten. Blut- und Urinproben, sagt der Polizist, würden derzeit im Labor ausgewertet, der Atemluft-Test sei negativ ausgefallen. Eines möchte Fredy H. am Schluss noch wissen: Wie geht es dem Unfallverursacher?

Der Polizist erzählt ihm, dass Andreas F. am Unfallort um Fassung gerungen habe, als die Sanität noch versuchte, den schwerverletzten Motorradfahrer zu reanimieren. Als sie die Wiederbelebungsversuche einstellte. Dass er gefragt habe, ob die Möglichkeit bestehe, an der Beerdigung teilzunehmen.

 

Fredy H. sagt, Andreas F. sei keiner, der Ausreden suche und Ausflüchte. Er sei einer, der zu seiner Schuld steht.

Sich selbst nicht vergessen in einem Leben mit der Schuld

Die Beerdigung findet ohne Andreas F. statt. Die restlichen Angehörigen von Dominik H. wünschen, im kleinen Kreis Abschied zu nehmen. «Rückblickend glaube ich, dass das richtig war», sagt Fredy H., während sein Blick nach rechts schweift, zu Andreas F. «Es wäre für dich zu happig geworden.»

«Darüber habe ich am Unfalltag nicht nachgedacht», sagt Andreas F. Es sei nicht wichtig gewesen, wie es ihm selbst dabei ergehe. «Ich wollte, dass es für die Hinterbliebenen stimmt.» Als er im Einzelgespräch gefragt wird, ob er die Teilnahme aus Pflichtgefühl angeboten habe, sagt Andreas F. «aus Anteilnahme». Könnte es eine moralische Verpflichtung sein? Eine, die ihn damals dazu bringt, vermutete Bedürfnisse anderer über sein eigenes Wohlbefinden zu stellen? «Im Unterbewusstsein», sagt er, «ja, vielleicht.»

Den Polizisten bittet Fredy H., im Telefongespräch am Unfalltag, er möge Andreas F. ausrichten, dass er sich bei ihm melden werde. In ungefähr zwei Monaten, sagt er, sollte ein Treffen möglich werden.

Fällt es leichter zu vergeben, wenn man Reue spürt? Wenn man merkt, dass der andere leidet? Dass auch sein Leben ins Schlingern geraten ist, nicht bloss das eigene?

Wenn Fredy H. darüber redet, was ihn zum Treffen mit Andreas F. bewogen hat, dann spricht er vom Verlust. Der da ist und schmerzt, fraglos, den er annehmen musste, um weiterzuleben. Er spricht aber auch von Schuld. Er spricht vom Wunsch, Andreas F. von seiner moralischen Last zu befreien, was voraussetzt, dass dieser seine Schuld im Bewusstsein präsent hat. «Wenn einer so locker darüber hinwegginge», sagt Fredy H., «dann wäre es schwierig».

Hinweg über den Tod von Dominik H., den er in den Gesprächen seinen «Sohnemann» nennt.

Eine E-Mail, nachts um zwei

Es ist Andreas F.s Ehefrau, die Hilfe sucht, elf Tage nach dem Unfall, nachts um zwei. «Mein Mann hat keine physischen Schäden vom Unfall davongetragen», schreibt sie an die Beratungsstelle von RoadCross Schweiz, «die psychische Belastung ist für uns beide aber sehr gross.»

«Weiss nicht», antwortet Andreas F. etwas verlegen, als er gefragt wird, warum es seine Frau war, die das E-Mail verfasst hat. Dann sagt er: «Weil sie besser ist in solchen Dingen.»

Die Beraterin vermittelt das Ehepaar F. an eine Psychologin, bleibt mit ihnen per Telefon und E-Mail in Kontakt. Auch die Beerdigung ist Teil der Gespräche. Andreas F. denkt darüber nach, eine Karte zu schicken. Sie rät ihm davon ab.

Weder RoadCross Schweiz noch die Opferhilfe Zürich erheben Zahlen dazu, wie häufig Unfallverursacher bei ihnen um Hilfe suchen. Beide Stellen sagen, in ihrem Beratungsalltag sei das eher selten der Fall. Gerade bei Fahrlässigkeitsdelikten könne es für die Betroffenen besonders schwer sein, einen Umgang miteinander zu finden. Diese Unfälle werden in der Regel nicht vorsätzlich und meist nicht einmal grobfahrlässig verursacht, führen aber dennoch zu grossem Leid.

Eva Clavadetscher leitet die Beratungsstelle von RoadCross Schweiz. Im Interview erläutert sie, worauf es bei einer Kontaktaufnahme nach einem Unfall zu achten gilt.

Sie nehme bei Unfallverursachern häufig eine gewisse Ohnmacht wahr, sagt Eva Clavadetscher, Leiterin der Beratungsstelle von RoadCross Schweiz. Viele haben Schuldgefühle und möchten sich entschuldigen, sie möchten erfahren, wie es der verletzten Person geht. Eva Clavadetscher rät ihren Klienten in solchen Situationen, zunächst keinen persönlichen Kontakt mit der anderen Person aufzunehmen, sondern dies schriftlich, beispielsweise in einer E-Mail, oder über eine Drittperson zu tun.

 

Für sie ist es wichtig, in den Beratungsgesprächen herauszufinden, welche Absicht hinter dem Kontaktwunsch steht. Geht es darum, zu erfahren, wie es der anderen Person geht, oder eher darum, sich zu erklären, zu rechtfertigen – zu entschuldigen? Gerade die Bitte um Verzeihung könne beim Unfallopfer Druck oder sogar Schuldgefühle auslösen, wenn eine Annährung zu dieser Zeit nicht möglich ist, so Eva Clavadetscher. Sie rät, eine Kontaktverweigerung zu respektieren und die andere Person entscheiden zu lassen, ob und in welcher Form ein Austausch möglich ist. Zu einem Treffen zwischen den beiden Parteien komme es in den seltensten Fällen, sagt sie.

Eine Katastrophe, die sich nicht einordnen lässt

Bald treffen bei Fredy H. die ersten Beileidskarten ein. Stundenweise geht er ins Büro, daneben fährt er seine Schichten – in einem Teilzeitpensum ist auch er Bus-Chauffeur, wie Dominik H. es gewesen war. Fredy H. sagt, für anderes habe ihm in diesen Tagen die Kraft gefehlt. Er habe sich stark zurückgezogen.

 

Ab und zu schlägt er die Bibel auf.

Fredy H. spricht über seinen christlichen Glauben, wenn man ihn danach fragt. Aber er zögert, bevor er antwortet. Es klingt fast entschuldigend, als er sagt, er sei keiner, der für jede Lebenslage nach dem passenden Bibelzitat blättere. Und, ergänzt Fredy H., er sei auch keiner, der über dem Boden schwebe. Dazu macht er mit seinen Händen Flatterbewegungen. Er möchte nicht in die Esoterik-Ecke gestellt werden.

 

In den Psalmen findet Fredy H. Ermutigung und Trost. «Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen», liest er im Buch Hiob. Und doch kann er den Tod seines Sohnes nicht einordnen.

In welcher Ordnung würde eine solche Katastrophe nicht querstehen?

Fredy H. und Andreas F. mögen unterschiedliche Wege gefunden haben, mit dem Tod von Dominik H. umzugehen. Die «Warum»-Frage, das haben beide gemerkt, führte sie nicht zu Erkenntnis, sondern in eine negative Gedanken-Spirale.

Bei Fredy H. führt sie zu Vorwürfen gegenüber Gott, die er nicht machen will. Warum hast du das zugelassen?

Bei Andreas F. führt sie zur Zermürbung. Warum musste mir dieses Unglück zustossen?

Fredy H. und Andreas F., sie beide mussten lernen zu akzeptieren, dass es auf manche ihrer Fragen keine Antworten gibt.

 

Erste Worte

Fünfunddreissig Tage nach dem Unfall erhält Andreas F. eine SMS.

«Guten Tag, Herr F.

Herr X. von der Kantonspolizei hat Sie informiert, dass ich, der Vater von Dominik H., mich bei Ihnen melden werde, damit wir einen Termin für ein Gespräch vereinbaren können. Mir ist es sehr wichtig, Sie persönlich kennenzulernen und dass wir uns nicht am Telefon erstmals begegnen. Ich kann Ihnen versichern, dass ich in Frieden auf Sie zukomme (…).»

Andreas F.s Frau wird der Beraterin von RoadCross Schweiz in den folgenden Tagen berichten, dass die ersten Wortwechsel zwischen Fredy H. und ihrem Mann per SMS sehr positiv verlaufen seien. «Er scheint sehr unvoreingenommen und friedvoll eingestellt zu sein», schreibt sie. «Das ist sehr schön, und darüber sind wir natürlich sehr froh.»

«Möchten Sie sie lesen?», fragt Andreas F., als er im Gespräch nach seiner SMS-Antwort an Fredy H. gefragt wird. Über die Tischecke reicht er sein Mobiltelefon. Als ich die Nachricht für die Audio-Aufnahme laut vorlese, steht er auf und holt sich auf dem Sideboard eine Flasche Wasser.

«Guten Tag Herr H.

Vielen Dank für Ihre aufrichtige Nachricht. Auch mir ist es wichtig, mit Ihnen in Kontakt zu treten und Sie kennenzulernen (…). In der Nähe meines Hofs gibt es einen Wald mit schönen Orten, wo wir ungestört miteinander sprechen können (…). Ich bin sehr froh und dankbar über Ihr Entgegenkommen und über Ihre unvoreingenommene Art.

Herzliche Grüsse und bis bald, Andreas F.»

In weiteren SMS vereinbaren Fredy H. und Andreas F. das Datum.

 

Schritte aufeinander zu

Vierzig Tage nach dem Unfall steigt Fredy H. in einem 3500-Seelen-Dorf in einen roten Personenwagen. Und Andreas F. legt seine Arbeit nieder, um zu duschen.

«Ist es einer mit Tattoos oder mit langen Haaren?», fragt sich Fredy H. «Ist er mir sympathisch, finden wir gemeinsam einen Weg?»

«Wird er mir Vorwürfe manchen?», fragt sich Andreas F. «Gebe ich ihm zur Begrüssung die Hand? Möchte dieser Mann mir überhaupt die Hand geben?»

Um 15 Uhr biegt Fredy H. auf den Parkplatz in einem Waldstück ein, unweit des Hofes von Andreas F. Er steigt aus, geht ein paar Schritte, steigt wieder ein. Es ist ein kühler Tag. Es halten andere Autos, es laufen Spaziergänger mit ihren Hunden vorbei, Familien und Paare. Fredy H. muss warten. Er ist eine halbe Stunde zu früh.

Andreas F. setzt sich nochmals in die Küche, auch er ist zu früh. Um fünf vor halb vier Uhr verlässt er das Haus.

Fredy H. steht vor seinem Auto, sieht Andreas F. entlang dem Feldweg auf ihn zukommen, läuft ihm entgegen.

Und reicht ihm die Hand.

Andreas F. erinnert sich, was Fredy H. als Erstes zu ihm sagte: «Das muss ein schwerer Gang für dich gewesen sein.»

Fredy H. bietet Andreas F. das «Du» an. Dann laufen sie los, vorbei an kleinen Teichen mit Seerosen, während sie reden über das, was passiert ist. Über das, was ihre Leben derart ins Schlingern gebracht hat. Über den Unfall, über Dominik H., der fehlt. Andreas F. bittet Fredy H. um Verzeihung. Und Fredy H. sagt: «Ich habe dir vergeben.»

Eine Verbindung, die bleibt

Was bleibt, zwischen Fredy H. und Andreas F.?

Die beiden pflegen seit ihrem Treffen einen losen Kontakt per SMS oder Telefon. Am Gespräch für diesen Text haben sie sich erstmals seit ihrem Treffen wiedergesehen. Wenn sie gebeten werden, sich gegenseitig zu beschreiben, dann heben beide das Positive im anderen hervor. Und wenn sie gebeten werden, ihre Verbindung zu beschreiben, dann finden beide kein passendes Wort, das für den Vergleich taugt.

Sie sind nicht bloss Bekannte, dafür stehen sie sich zu nahe. Und keine Freunde, dafür ist der Kontakt nicht intensiv genug, sagt Andreas F. Sie pflegen eine Beziehung, sagt Fredy H., die in einem tragischen Ereignis ihren Anfang nahm. Die bleibt, weil Dominik H. nicht mehr wiederkommt. Ein Leben lang.  

 

Andreas F. wurde wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe auf Bewährung verurteilt. Den Fahrausweis für seinen Traktor musste er für sieben Monate abgeben. Er hat das Urteil akzeptiert, seine rechtliche Schuld ist abgegolten.

Fredy H. ist auf ihn zugegangen, hat ihm vergeben.

Hat auch er sich vergeben?

«Das ist eine schwierige Frage», sagt Andreas F.

 

Es ist eine Frage, auf die er im Gespräch keine Antwort geben kann.

Text, Bild, Video- und Audio-Aufnahmen: Livia Häberling

Dieser Text ist im Rahmen der Diplomarbeit am MAZ entstanden.

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